Forschung ist tätige Auseinandersetzung mit der Welt

Wir machen Erkenntnisse, der Erkenntnisprozess ist in diesem (Hegelschen und Arendtschen) Sinne Arbeit. Der Forschungsprozess gliedert sich in verschiedene Phasen und Perspektiven, in denen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden (müssen). In der ersten Phase oder Perspektive sind Was-Fragen von Bedeutung: Was wollen wir erforschen, was ist unser Motiv, was wissen wir bereits und aus welchen Quellen bzw. Zusammenhängen, was ist die Forschungsproblematik? Hier geht es um Bedeutungen und Vorgefundenes. Die zweite Phase oder Perspektive befasst sich mit Wie-Fragen: Wie können wir relevante Daten erheben, mit welchen Methoden wollen wir wie auf die Forschungsproblematik eingehen, wie analysieren wir erhobene Daten, wie formulieren wir Erkenntnisse? Hier geht es um Sinnzusammenhänge und die Grammatik des Forschungsvorhabens. Die letzte Phase oder Perspektive setzt sich mit der eigentlichen Durchführung und den damit einhergehenden Schwierigkeiten und zum Teil auch Unwägbarkeiten auseinander: Wie kommen wir ins Feld, wie führen wir Interviews oder Beobachtungen durch, wie gehen wir mit den Daten um, wie verhalten wir uns zu unserem Gegenstand und den Menschen und Dingen, die in unserer Forschung eine Rolle spielen, wie organisieren wir den Forschungsprozess? Hier geht es um das Machen und Bewerkstelligen von Forschungsaktivitäten. Diese drei Phasen oder Perspektiven kommen immer wieder ins Spiel.

Bezogen auf Friedrichstadt lässt sich festhalten, dass zunächst der Bedeutungsrahmen aufgezogen wird: Die Blockrandstruktur der sehr kleinen und alten Stadt macht diese eher als Dorf zu bezeichnende Siedlungsstruktur auf einer formalen Ebene zur Stadt. Es kommen sehr viele Touristen nach Friedrichstadt, weshalb temporär die soziale und technische Infrastruktur extrem belastet bzw. darauf explizit ausgerichtet wird, z.B. durch das ubiquitäre Angebot an Fremdenzimmern, Gästezimmern, Gästehäusern, Ferienwohnungen und Hotels. Gleichzeitig wird erst durch Gäste das städtische Empfinden produziert. Die Schaffung von Angeboten an Touristen geht bis in die einzelnen Häuser hinein, wenn etwa das durch den Auszug der Kinder entstandene Flächenpotenzial in ein Gästezimmer innerhalb der eigenen Wohnung oder eine Einliegerwohnung als Ferienwohnung übersetzt wird. Gleichzeitig hat Friedrichstadt wie sehr viele andere Klein- und Mittelstädte mit Abwanderung der Jungen und der Alterung der Gesellschaft zu kämpfen. Der gegenwärtige Zeitpunkt scheint von einer bevorstehenden Entwicklung zu zeugen: Noch gibt es einen Schlachter, eine Apotheke, einen Bäcker, einen Buchladen, eine Kneipe, ein Restaurant, doch die Leerstände in der Ladenstraße bleiben oder werden beständig, der/die Bürgermeister*in arbeitet ehrenamtlich, die Familien, die in die angrenzende Einfamilienhaus-Siedlung gezogen sind, haben mit denselben Problemen zu tun, wie jene, die in der Kernstadt geblieben sind. Doch es gibt auch Anzeichen für gegenteilige Entwicklungen: So ziehen Menschen mit flexiblen Arbeitsverhältnissen in die Stadt, kaufen und bauen Häuser um, richten sich Werkstätten und Ateliers ein. Wohnen und Arbeiten lässt sich im Bestand in Blockrandbebauung gut unter ein Dach bringen, die einzelnen Häuser werden von den Bewohner*innen immer wieder neu an ihre sich verändernden Bedürfnisse angepasst und scheinen diese Anpassung auch leisten zu können. Was ist hier los? Was macht Friedrichstadt, was kann Friedrichstadt? Diese Fragen münden in das Motiv, die Stadt unter dem Blickwinkel ihrer Potenziale näher zu betrachten. Ist dieser Rahmen von Bedeutungen und Forschungsproblematik gesteckt, wenden wir uns den Zusammenhängen, der Schärfung der Fragestellung sowie der Frage nach den Ansätzen und Methoden zu. Da wir uns auf verschiedenen Maßstäben (Stadt/Block, Block/Haus, Haus/Zimmer) bewegen und sowohl das städtische Gefüge als auch einzelne Bewohner*innen in den Blick nehmen wollen, wir uns also mit sozial hergestelltem und gelebtem Raum und den unterschiedlichen Formen des Wohnens (temporär vs. unbegrenzt) auseinandersetzen, müssen wir dieses Gefüge als Ganzes untersuchen und uns mit der darin aufscheinenden Vielfältigkeit von persönlichen Geschichten, architektonischen Möglichkeiten und dem dortigen Alltagsphänomen des Tourismus befassen.

Akteure und deren soziomaterielle und ökonomische Beziehungsgefüge werden vor Ort analytisch betrachtet. Hierzu gehört eine Bestandsaufnahme der Entwicklung Friedrichstadts. Mit Bezug auf die selbst identifizierten Handlungsfelder (Stadt inmitten der Dörfer; lebendige Wirtschaft, Freizeit, Tourismus & Kultur; Bauen, Wohnen & Stadtbild; Partizipation, Kommunikation, Engagement) ergeben sich folgende Themenfelder:

Wohnen: Wer wohnt in Friedrichstadt, wo und wie? Welche Wohnformen und Haushaltsgrößen finden sich in der historischen Blockrandbebauung und in den Einfamilienhausgebieten? Wie hat sich das Wohnen entwickelt? Wie organisieren die Bewohner*innen Wohnen, Arbeiten und Freizeit räumlich? Wie wird finanziert, geplant, gebaut und umgebaut?
Arbeit: Parallel interessiert uns, wie sich die Arbeit in Friedrichstadt entwickelt hat. Welchen Beschäftigungen gehen die Friedrichstädter nach, wo sind ihre Betätigungsstätten verortet und wie gelangen sie dorthin? Wie sind die Arbeitswelten in Sommer und Wintermonaten organisiert? In welcher Wechselwirkung stehen Wohnen und Arbeit? Und wie verhält sich das Vermieten von Zimmern zur Arbeit?

Tourismus und Ökonomie: Insbesondere fragen wir nach der Bedeutung, den Bedingungen und Auswirkungen des Tourismus als räumlicher und ökonomischer Faktor. Tourismus ist ein komplexes Gefüge, das diverse soziale, räumliche und ökonomische Aspekte vereint, deren Potenziale aufzuzeigen sind. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme der Zimmer und touristischen Infrastrukturen interessieren wir uns für die mögliche und bereits zu beobachtende Überlagerung und Verknüpfung von Wohnen, Arbeiten und gemeinschaftlicher Organisation bzw. Zusammenarbeit zwischen Einzelhändler*innen, Bewohner*innen und Anbieter*innen am Beispiel des Tourismus. Wie organisiert sich die Beherbergung von Touristen und Bewohnern räumlich, auf der Mikro- und der Makroebene, in den unterschiedlichen Teilen der Stadt? Welche Formen der Raumproduktion lassen sich bei unternehmerischen Akteuren der Tourismusbranche erkennen, welche (Potenziale für) Innovationen in physisch-räumlicher, sozialräumlicher und ökonomischer haben sich herausgebildet?

Städtisches Leben: Zentral sind hierbei Fragen wie: Was bedeutet städtisches Leben in Friedrichstadt heute? Welche Rolle nimmt Friedrichstadt in der Region ein? Welche räumliche Organisation bildet sich für unterschiedliche Altersgruppen ab und welche Räume produzieren sie jeweils, beziehungsweise wie nehmen sie diese in Gebrauch? Wie sieht die aktuelle Nutzungsprogrammatik der historischen Stadt mit ihrer Blockrandbebauung im Verhältnis zur offenen Bebauung der Einfamilienhausgebiete aus?

Stadtentwicklungsgeschichte: Ausgehend von einer Bestandsaufnahme heutiger Nutzungen stellen wir die Frage, wie es zu diesen gekommen ist. Insbesondere interessieren wir uns für die Entwicklung der historischen Stadtstruktur, die Planungen, die ihr zugrunde liegen, ihre programmatischen Setzungen und Wandlungen in den Typologien des Wohnens und Arbeitens. Diese Dimension der Untersuchung legt somit die Entstehungsbedingungen der Gegenwart und den Werdungsprozess frei, um demographische, kulturelle, ökonomische und städtebauliche Entwicklungstendenzen zu erkennen, die auf mögliche Zukünfte verweisen.

„Wie man wohnt, reflektiert nicht nur das eigene Verständnis vom Idealtypus des Wohnens, sondern ist indirekt stets auch ein Spiegel der dort sesshaften Gesellschaft. Welche Wohnform kann man sich leisten? Welche möchte man sich leisten? Welche nicht und warum nicht? Wie gehe ich mit meiner „Wohnung“ um? Wie wird man dadurch von der Gesellschaft wahrgenommen?“ 1

Die somit freigelegte Programmatik des Ortes auf den verschiedenen Maßstabsebenen Stadt/Block, Block/Haus, Haus/Zimmer, der Typologien, der Akteure, der Praktiken und der Entwicklungen liefert die Ausgangssituation einer Analyse, um auf Basis dieser Szenarien zu erarbeiten und mögliche – auch extreme – Zukünfte sichtbar zu machen, auszuloten und damit verhandelbar zu machen. Die Untersuchungsergebnisse und die Szenarien wiederum bilden Evaluationskriterien und Grundlage für mögliche Entwicklungen, Interventionen und Planungen. Das gesamte Forschungsverfahren und die Szenarien werden von uns grundsätzlich als offene und erweiterbare Formen verstanden, die im zukünftigen Prozess der Stadtentwicklung weitergeschrieben und weiterverhandelt werden müssen.

  • „Richtfest beim Neubau des Wohnhauses von Johann Casimir Storm am Holmertor.“
    Gesellschaft für Friedrichstädter Stadtgeschichte [Hrsg.].; Thomsen, C. (k.A.). Friedrichstadt wie es was. Ein historisches Bilderbuch. Husum: Druck- und Verlagsgesellschaft.

  • „Die Prinzenstraße vom Marktplatz aus gesehen, um 1890. Im Vordergund links ein Pferdefuhrwerk der Friedrichstädter Brauerrei.“
    Gesellschaft für Friedrichstädter Stadtgeschichte [Hrsg.].; Thomsen, C. (k.A.). Friedrichstadt wie es was. Ein historisches Bilderbuch. Husum: Druck- und Verlagsgesellschaft.

  1. Keuss, R./UD. Autumn School 2017. Friedrichstadt: Wie wohnst du?