Hang on!

Autoren:
Ben Becker
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Urban Design
Stefanie Graze
Studierende Urban Design


„Ich geh Baumhaus, wer kommt mit?“ Wenige Augenblicke später liegen sechs Schulranzen neben dem mächtigen Ahorn im Garten der UdN. Sie gehören einer Gruppe Zehnjähriger, die täglich nach der Schule hierher kommen, um sich in die sieben Meter hohen Lianen aus Feuerwehrschläuchen zu hängen, darauf zu klettern und zu schaukeln. Ein Jahr ist es her, dass das experimentelle Baumhaus gebaut wurde. Die Begeisterung bei den Kindern für ihr Schlauchbaumhaus scheint ungebrochen. Fragt man sie, weshalb sie meistens hier und selten auf dem Spielplatz samt Kletterparcours am Haus der Jugend spielen, lautet die simple Antwort: „Der Spielplatz da hinten? Der ist doch für Kinder!“.

Seit 2011 stellen sich Studierende und Lehrende der HCU der Frage, wie Kinder durch temporäre und experimentelle Interventionen im städtischen Raum unmittelbar an Planungs- und Gestaltungsprozessen in ihrer Nachbarschaft teilhaben können. Als niedrigschwelliges Freizeitangebot während der Sommerferien will das Projekt Kinder zur aktiven Teilhabe einladen und gleichzeitig einen kreativen Beitrag zur Gestaltung des benachbarten Parks, dem Rotenhäuser Feld, liefern. Der Prozess fordert Körperlichkeit ein sowie Geschicklichkeit im Umgang mit unterschiedlichen Materialien und schafft einen gemeinschaftlichen Erfahrungs- und Lernraum. Das Projekt richtet sich in erster Linie an Kinder aus der Nachbarschaft, die einen großen Teil der Parknutzer ausmachen. Dabei wird ein Prozess initiiert, der eine Teilhabe auf Augenhöhe ermöglicht und die Kinder als Bauherren versteht, deren Expertenwissen maßgeblich in die Planung und den Bau der Kletterobjekte miteinfließt.

Fragt man beispielsweise die neunjährige Cecile am ersten Tag des Sommerbaucamps, wie ihr Traumbaumhaus aussieht, zeichnet sie ein aufgeständertes Miniatur-Häuschen mit Satteldach, Schaukel und Rutsche. Am letzten Tag der Veranstaltung spannen sich dann stilisierte Spinnennetze zwischen den abstrahierten Bäumen ihrer Zeichnungen. Zwischen den beiden Bildern liegen nur zwei Wochen, aber auch ein spielerischer Formfindungsprozess, in dessen Verlauf Bewegungsabläufe der Kinder genau so in die Gestaltung mit einfließen, wie die Erkenntnisse aus den Versuchen mit völlig kontextfremden, recycelten Materialien auf ihre konstruktiven Merkmale und Qualitäten. Für die Auswahl der einzelnen Baustoffe und Konstruktionstechniken ist neben dem Recycling-Aspekt vor allem ausschlaggebend, dass sie sich auf möglichst einfache Art verarbeiten lassen und somit das aktive Bauen mit Kindern überhaupt erst ermöglichen.

Dafür werden im Verlauf der Sommerbaucamps spezielle Bautechniken entwickelt. Der Prototyp “Nest“ beispielsweise setzt sich lediglich aus zu Dreiecken zusammengeschraubten Dachlatten zusammen. Auf einfache Arbeitsschritte heruntergebrochen wächst das Nest als freies Raumfachwerk um die Äste der Baumkrone, die Konstruktion passt sich dabei schrittweise nicht nur der Gestalt und Belastbarkeit des Baums, sondern auch den Kletterbewegungen der Kinder an. Die unterbrechen ihre Arbeit in der sogenannten “Dreiecks-Werkstatt“ am Fuß des Baums immer wieder, um kletternd die Position des nächsten Dachlatten-Dreiecks zu bestimmen.

Größere bauliche Herausforderungen bringt das Strickbaumhaus mit sich: Auf der Suche nach geeignetem Baumaterial stößt man auf einen großen Stapel Abdeckplanen im Dachgeschoß der UdN. In lange Streifen geschnitten, stellen diese das ideale Material zum Stricken eines belastbaren Gewebes da. Nur: Wie strickt man ein Baumhaus mit Kindern? Die Lösung ist einfach: Mit einer Strickliesel. Allerdings keiner gewöhnlichen, zum Wollstrümpfestricken; sondern eine Strickliesel XXL, mit einem Durchmesser von zwei Metern. Ist diese erst aus Holzresten und Besenstielen gebaut, entsteht unter Einsatz weniger Handgriffe eine gigantische, belastbare Gitterröhre aus Abdeckplane. Das ist so einfach, dass es jedes Kind schnell beherrscht.

Um den Kindern aber den Zugang zu den experimentellen Bautechniken und den ungewöhnlichen Materialen zu erleichtern, bildet eine Geschichte den Auftakt und die Rahmenhandlung: Exklusive Bauherren haben das Baumhausteam über das Internet kontaktiert und den Bau individueller Baumhäuser beauftragt. Über die Bauherren und ihre Vorlieben existieren nur spärliche Informationen - ungünstige Grundvoraussetzungen für Architekten. Wie soll man ein Haus, geschweige denn ein Baumhaus, für jemanden bauen, von dem man gar nichts weiß? Das scheint auch den Kindern ein Ding der Unmöglichkeit, und so beginnt ein Arbeitsprozess, in dessen Verlauf sie gemeinsam mit den Studierenden zunächst die spärlich vorhandenen Informationen zu den Fantasiebauherren mit all ihren speziellen Charaktereigenschaften verdichten, um ihnen anschließend ihren Vorlieben oder Lebensumständen entsprechende Baumhauskonstruktionen zu entwickeln.

Neben dem Bauen stellt das tägliche Kochen für und mit den Kindern einen elementaren Bestandteil des Sommerbaucamps dar. Wie bei der Suche nach geeigneten Baumaterialien findet das Projekt auch hier eine breite Unterstützung im Stadtteil. Da wäre beispielsweise Herr Flecke, Restaurantbetreiber aus Wilhelmsburg, der seinen Baguette-Laden für einen Tag im Stich lässt, um den Kindern an der UdN Fischstäbchen zu braten. Die Wilhelmsburger Tafel steuert zusätzlich Lebensmittel bei, der Hamburger Großmarkt schenkt Unmengen Bananen und das lokale Unternehmen “Das Geld hängt an den Bäumen“ stiftet acht Kisten seines leckeren Apfelsafts. Im Laufe der drei Projektjahre steigert sich das nachbarschaftlich organisierte Kochen zur Lehrküche – mit Jörg Amelung von der “Kochburg“ oder Arman Marzak von “Dostan Catering“ am Küchenblock der UdN, lernen die Kinder am Ende eines jeden Bautages die Tricks und Kniffe der Wilhelmsburger Kochprofis.

“Aus Plastikfolie macht man Tüten, keine Häuser!“, hatte die elfjährige Aisha noch zu Beginn des Baucamps kopfschüttelnd beanstandet. Als dann am letzten Tag der Veranstaltung Alberta Rachnea - die Spinnenfrau, alias Kerem vom UdN-Theaterkollektiv „Inner Rise“, im schwarzen Morphsuit samt rosa Teesieb-Augen zur Abnahme ihres Seidenspinner-Baumhauses aus Einpackfolie schreitet, ist Aishas berechtigter Unmut vergessen.