Made in... Lokale Praktiken urbaner Produktion
Autoren:
Tabea Michaelis, Ben Pohl
Studierende Urban Design
Call for Entries / Forschungsfokus
Ob man sich nun Gedanken über die »postfossile Stadt«, über die Auswirkungen des »Ende der Lohnarbeit« macht, oder die unübersehbaren Graswurzelbewegungen des Urban Farmings, den Boom der Handarbeit oder die Erfindungen in den High-Tech »Fab-Lab« des Massachusetts Institute of Technology (MIT) genauer betrachtet – es gibt viele aktuelle Ansätze, die die These einer »Re-Lokalisierung der Produktion« in Städten in diesem Zusammenhang als durchaus sinnvoll erscheinen lassen. Mit dem Fokus auf die materielle Produktion in der nachindustriellen Stadt wollen wir in Kooperation mit Civic City und dem Fachbereich Urban Design der HafenCity Universität Hamburg die Potenziale lokaler Produktionsformen in transdisziplinärer Arbeitsweise erforschen. Mit dem Laborthema »Made in … lokale Praktiken urbaner Produktion« wurde das Ziel verfolgt, über die »kreative Stadt« hinaus an neuen ökonomischen, räumlichen und soziokulturellen Ideen zu arbeiten. Dabei sollte auch das vorhandene praktische Wissen und das Netzwerk der lokalen »Experten des Alltags«in die Prozesse der gegenwärtigen Stadtproduktion miteinbezogen werden. Dabei konzentrierte sich das Labor auf das zentrale Randgebiet Hamburgs: die Elbinsel.
Ensemble der Motive
Nach der Exploration der Elbinsel und den ersten Inspirationen sind wir am dritten Tag dazu übergegangen, uns unsere Motive und Interessen für die weitere Arbeit im Labor vorzustellen. Als Grundlage für die spontanen Gedankenskizzen dienten uns weiße A5-Karteikarten. Carte blance oder rien ne va plus. Die einzelnen Karten wurden nacheinander an die Motivwand gehängt und durch die Teilnehmer_Innen in kurzen Performances erläutert. Es gab keine festgelegte Reihenfolge der Kurzpräsentationen. Vielmehr bildete sich durch die Contents der Autor_Innen eine spezifische Abfolge, die die Motive impulsartig aufrufen ließen. Dabei bauten die Motive aufeinander auf und lenkten mit ihren Aspekten den Diskurs in verschiedene Richtungen. Inhaltliche, thematische oder konzeptionelle Überlagerungen, Assoziationen und Synergien der einzelnen Fragestellungen und Thesen wurden binnen weniger Sekunden und Stunden erkennbar. Die Motivwand war für die späteren Ausrichtung der sieben motivgebildeten Forschungsgruppen ein wichtiges Tool. Primär drehten sich viele Motive um die Frage, wie man die bestehenden, lokal-spezifischen Ressourcen (re-)aktivieren und sichtbar machen kann. [»Vernetzung von lokalen Kompetenzen in der Nachbarschaft« / »Vorhandene Ressourcen bündeln« /»Lebendiges Archiv des Wissens und Könnens – Bank und Marktplatz des sozialen Kapitals«.] Dabei waren auch ökonomischen Aspekte – wie beispielsweise folgende key words zeigen – relevant: [»Produktionsbeteiligung – Emptiness: provoke production?« / »Lokale Akteure als wirkliche Experten« / »Werte-> Wertaufbewahrungsmittel« /»Tauschwirtschaft« / »Umsonstmaterial - Was fällt an Abfall an?«] Ein fokussierter und neugieriger Blick auf den Alltag und dessen Phänomene zeigte sich bei Stichpunkten wie: [»Stadt als soziale Praxis – Wie kann Stadtforschung auf Basis von Indizien funktionieren? Wants of people versus Needs of People? « / »Warten.« / »Alltagswege – Transportmittel, Hilfsmittel und Grenzen der Mobilität?« / »Jam Session der Lebenswelten«]. Die Suche nach den kulturellen Eigenheiten oder der Inselidentität sowie den lokal-spezifischen Potentialen wurden wiederholt thematisiert, ebenso wie deren sozial-räumliche Vernetzungmöglichkeiten: [»Suche nach place unique – Autonomia de Identidad« / »Indifference schafft EMOTIONAL BOUNDARIES« / Insulanermentalität: Abgrenzung, Innen versus Außen, Wasser versus Land, gut? schlecht?«/ »Wasserinselgrünsarmutsaussenansicht «.] Sensibilisiert waren viele Teilnehmer_Innen bereits auch in Hinblick auf die Aktivitäten der IBA und deren Inselkampagne. Sodass zurecht gefragt wurde: [»Wer bestimmt, wie Wilhelmsburg sein soll? – Einwohner oder Außenstehende?«] Aber braucht es wirklich eine Imagekampagne? Braucht Wilhelmsburg gerade uns? Nein! [»Wilhelmsburg ist kein Patient. Wir sind keine Ärzte. Wir wollen nicht heilen, impfen. »Wir können lernen!«.] Auch die Sorge, dass wir mit unseren Forschungsinteressen und Motiven einen touristischen (und womöglich nachhaltigen) »Sichtbarkeitskrieg« in Wilhelmsburg führen war groß und wurde später in den Projektgruppen bewusst aufgegriffen und intensiv verhandelt. Doch wie kommen wir ins Spiel – in einen ebenbürtigen Austausch/Dialog mit den Insulanern? Erste Ansätze dafür waren in einigen Motiven angelegt: [»Impulsproduktion – Impulse erzeugen, um eine Kommunikation unter uns und den Bewohnern zu stimulieren«/ »Contact Zone für Dialoge – Interface« / »Gehsteig als Kommunikationsraum« / »Participate in… in this region« / »Lernen aus der Kontextverschiebung.« »Projekt für alle: Zaun abreißen.«] Die Frage nach unserer Rolle und welche Haltung wir gegenüber dem Forschungsfeld einnehmen war ebenso Gegenstand der Diskussion wie die Frage nach Transparenz und Offenheit in unserem Think Tank: »Schluss mit Flüstern und Tuscheln. Lassen wir das Labor explodieren: Grenzen verschieben, Wände durchbohren – die UdN sprengen!«
Möglichkeitsraum: LABOR
Das Labor war für uns ein offener, dynamischer Denkraum – ein Ideenraum. Möglichkeitsraum. Ein experimenteller Ort, an dem wir Fragen und Thesen zu einer verstädterten Gesellschaft schärften und Projekte für die gegenwärtige Stadt in Zukunft entwickelten. Eine temporäre Denkfabrik bestehend aus kleinen motivbasierten Forschungseinheiten, welche sich das Forschungsgebiet auf theoretischen und/oder praxisbezogenen Weisen fragend und beobachtend erschlossen. Im Crowdsourcing-Prinzip haben wir vor Ort Wissen produziert, gebunden, angehäuft, dieses auf verschiedenste Weisen am Ort wiederholt eingespielt und in einem rekursiven Austausch weiterentwickelt. Wobei wir aktiv im Feld oder phasenweise zurückgezogen in unserer Forschungsstation UdN die lokalspezifischen Eigenheiten untersuchten und in unseren Arbeiten weiter ausformulierten. Durch die angelegten Reflexionsebenen blieb der gemeinsame Laborprozess für alle Beteiligten nachvollziehbar und transparent. Unser Wissen stand und steht nach wie vor allen zur Verfügung. Die Konzentration und Intensität der Auseinandersetzungen und Aushandlungen war sehr hoch, die Motivation in nur kurzer Zeit sich mit der Komplexität auseinander zusetzen. Learning from wurde zu einer der wichtigsten Methoden im Labor. Learning from each other – und das auf Augenhöhe. Doch eine der größten Herausforderung bedeutete sich in dieser kurzen vorgegebenen Zeit auf die unterschiedlichen Teilnehmer_Innen und ihren Herangehens – oder Sichtweisen einzulassen, sich untereinander im interkulturellen Prozess zu verständigen. Um sich über das gemeinsame Forschungsinteresse hinaus kennenzulernen bildete der gelebte Alltag in der UdN mit dem morgendlichen Frühstück und den
abendlichen Küchensalons eine wichtige Voraussetzung dafür. Die offene und großzügige Küche in der UdN spielte eine zentrale Rolle. Indem wir uns dort zum Kaffee trinken, Frühstück zubereiten oder zum Kochen trafen, kamen wir über diese alltäglichen Praktiken – das repetitive Tun in einen engen Austausch. Ein Dialog, welcher bis heute anhält. Dass die UdN aber nicht nur zu den abendlichen Küchensalons für Freunde, Nachbarn und Interessierte geöffnet sein sollte, wurde sehr schnell und zu Beginn unter den Laborteilnehmenden ausgehandelt. »Schluss mit Flüstern und Tuscheln. Lassen wir das Labor explodieren: Grenzen verschieben, Wände durchbohren – die UdN sprengen!« Wiederholt kamen Personen (zufällig oder bewusst) aus der Nachbarschaft, die sich für unsere Arbeit und Leben im Labor interessierten. Wir luden sie zum Mittagessen oder auf einen Kaffee mit Schnaps ein, wobei wir auch das Missverständnis ausräumen konnten, dass wir keine ,instrumentalisierte‘ IBA Veranstaltung waren, sondern einen ebenbürtigen Austausch mit der Nachbarschaft und Teilnehmer_Innen suchten.
Mutfak Salnou – Salon de cuisine – Kitchen Salon
Die anfängliche Kritik, dass unser Labor womöglich ein elitäres und geschlossenes Think Tank werden könnte, dass invasionsartig in Wilhelmsburg einfällt und ebenso schnell wieder davonzieht, haben wir nicht nur während der Konzeptionsphase, sondern auch während des Labors vor Ort sehr ernst genommen. Wir waren keine Tagestouristen, die morgens auf die Insel und abends wieder Richtung Innenstadt reisten. Nein. Wir wollten Alltag, und zwar den ganzen Alltag auf der Elbinsel. Wir waren zwar temporäre Nachbarn, aber ja – wir waren da. Eine Woche Permanenz in der Universität der Nachbarschaft. Im gesamten Prozess waren wir forschende Wohnende und wohnende Forscher_Innen. Wohnen als Praxis. Allerdings war uns bereits durch vorangegangene Erfahrungen bewusst geworden, dass Nachbarsein kein passiver, sondern einen aktiven Zustand bedeutete. Etymologisch leitet sich Nachbarschaft von ,nahgebur‘, der ,nahe Bauer‘ ab. Demnach ist damit die räumlich nahe wohnende Personen zu verstehen. Lewis Mumford führt 1967 dazu aus »Die Gemeinsamkeit des Ortes ist vielleicht die ursprünglichste der sozialen Bindungen, und im Gesichtskreis seines Nachbarn leben die einfachsten Formen der Vergesellschaftung.« Was folglich bedeutet, dass Nachbarschaft sich nicht nur von den territorialen Begebenheiten ableitet, sondern sie auch deren Bedingungen darstellt (vgl. Dell; Kniess, S. 2). Diese Bedingungen sind gegeben – gleichzeitig wollten wir den Begriff Nachbarschaft erweitern, ja öffnen. Nachbarsein betrachten wir als Perspektive, von welcher wir aus das Forschungsgebiet – die Elbinsel auf ihre lokalen, sozialen und ökonomischen Produktionsprozesse hin betrachteten. Während des Labors ging es uns also nicht nur darum, mit Herrn ,Sowieso‘ vom Wohnhaus ‚auf der anderen Seite‘ in einen Dialog zu treten, der nicht nur einen Hund sondern auch die Angewohnheit hat, vornehmlich vormittags laute Musik bei geöffnetem Fenster zu hören; oder mit den Schulkindern ins Spiel zu kommen, die den UdN Vorgarten als Abkürzung auf ihren Nachhauseweg nutzen. Doch wann und wie öffnet man ein solches Labor, dass es sich auch zum Ziel gesetzt hatte, einen wissenschaftlichen Diskurs über die UdN und Elbinsel hinaus zu führen? Das Format des abendlichen Küchensalons ermöglichte genau den von uns gesuchten nachbarschaftlichen Austausch. Die UdN war Forschungsstation und Plattform zugleich. Der Küchensalon als Schnittstelle zwischen dem hochkonzentrierten Labor und den site-specific Alltagswirklichkeiten, ergab den gewollten programmatischen Perspektivenwechsel im fortlaufenden Prozess. Zu den Salons, die unter besonderen Fragestellungen stattfanden, waren auch die ,benachbarten‘ Institutionen (IBA, HCU, Bürgerhaus Wilhelmsburg, …) oder Gruppen (Vereine) eingeladen. Ausgewählte Beispiele lokaler, mikro-ökonomischer oder sozikultureller Konzepte, wie Fab-Lab Initiative St. Pauli, Premium Cola (Uwe Lübberman), Bürgerhaus Wilhelmsburg (Bettina Kiehn) gaben verschiedene Einblicke in unterschiedliche Haltungen und deren lokalen Produktionsprozesse. Persönliche und mehrsprachige Einladungen dazu erfolgten vor Beginn und während des Labors durch die verschiedenen Laborteilnehmer bzw. der Initiatoren. Die ,räumliche‘ Nähe dehnte sich auch über die Elbinsel hinaus. Wir suchten die praxisbezogene, urbane Nachbarschaft. Die Frage, inwieweit uns die Sprengung, die Öffnung und die (Durch-)Mischung von privaten und institutionellen Nachbarn geglückt ist, bleibt von anhaltendem Interesse für uns Initiator_Innen des WilhelmsburgLabors. Die Gruppe ,Cariba‘ leistete für die Transparenz des Labors zudem einen wesentlichen Teil. Ihr Motiv war es, das Labor in das Gebiet hinaus zu tragen. Mit ihrem selbstgebauten Piratenschiff machten sie sich auf die Suche nach Inselbewohnern und ihren Welten. Von ihren ausschweifenden Streifzügen brachten sie oftmals Gäste mit in die UdN. Auffallend war es, dass einige Gäste wiederholt zu den öffentlichen Anlässen vorbeikamen und dabei ihre Sichtweisen in die Diskussion mit einbrachten. Für die Laborteilnehmenden boten diese Gespräche und Diskussionen eine Schärfung und einen Abgleich mit den eigenen Forschungsfragen und Motiven. Wiederholte und bewusst initiierte Reflexionsschlaufen für die Gedankenansätze und Modelle. Rückblickend betrachtet war der Küchensalon eine wichtige Unterbrechung und Belebung für den gemeinsamen Arbeitsprozess.
La table d’hote
Der lange Tisch in der Mitte des großen Saals hat – wie sich im Nachhinein zeigt – eine wichtige Rolle im Forschungsalltag gespielt und übernommen. Wichtig, weil zentral, wichtig weil konstant, wichtig weil vielseitig gebraucht. Tischlein deck dich im Wechselspiel lebhafter Diskussionen, intensiver Besprechungen oder stiller Konzentration. Entlang der Tafel kam es wiederholt zur Produktion vielseitiger »Tischgemeinschaften« und interkultureller Tischnachbarschaften. Wissen, Fragen, Ideen wechselten die Seiten, tauschten sich aus. In between. Gläser wurden gefüllt und geleert. Das gemeinsame, mehrmals tägliche Essen mit unseren Gästen stand genauso im Mittelpunkt wie der unmittelbare Erfahrungsaustausch. Am Tisch begann der Alltag, am Tisch endeten meist die Nächte und schließlich auch der Workshop. Der Tisch und seine Tischdecke zeichneten dabei in lautloser, konstanter, fragmentarischer Weise neben den hinterbliebenen Spuren aus Kaffee, Rotwein und Brotkrümeln die zahlreichen Dia- oder Monologe in Form von Scribblings oder Notizen auf der rauen Papieroberläche auf. Und für uns unübersehbar fest.