Interkulturelles Fußballturnier

Autor:
Lukas Grellmann
Studierender Urban Design

Das Interkulturelle Fußball Turnier wurde im Rahmen des Seminars „Interkulturelle Praxis“ im Sommersemester 2010 von Studierenden der HCU in Zusammenarbeit mit dem Kunst- und Sportverein Hamburg entwickelt. Der Kunst- und Sportverein ist Teil des Projekts „Sidewalk Deli“, welches sich unter kuratorischer Leitung von Jan Holtmann auf künstlerisch-diskursive Weise mit öffentlichen Räumen und den Entstehungs- bzw. Wirkungsweisen von Öffentlichkeit beschäftigt.

Wir bedienen uns aus gegebenem Anlass der Fußball-WM in Südafrika und stellen uns der Frage, wie wir vom Fußballspielen ausgehend eine geeignete Form des Fußballspielens entwickeln können, die uns hilft, mit der Stadt und seinen Akteuren in Beziehung zu treten. Dieses In-Beziehung-Treten ist zunächst offen formuliert, folgt keiner vordefinierten Zielsetzung und lässt so Spielraum für Ideen und Experimente. Im Laufe des Arbeitsprozesses entwickelt sich immer mehr eine konkrete Idee für ein performatives Format, welches Akteure und Stadtraum in Beziehung treten lässt. Dieser Prozess von seinen ersten zaghaften Überlegungen bis hin zu seiner performativen Anwendung in Form eines interkulturellen Fußballturniers ermöglicht es uns durch die angewandte Praxis mehr über die städtische Praxis zu lernen.

Testphase: Regler: Min - Max

Wir wählen einzelne der gesammelten Fußball-Elemente aus und experimentierten mit einem “Regler-System”. Wir fragen uns was passiert, wenn wir einzelne Elemente maximieren oder sie minimieren. Verändert sich das Spiel dadurch, welches sind die Veränderungen? Was können wir aus diesen Erkenntnissen lernen und welche weiteren Fragestellungen lassen sich aus unseren Erkenntnissen ableiten?
Wir fragen uns, was passiert, wenn wir das Fußballspiel in Bezug auf Größe, Material und Gewicht des Balls variieren. Verändert sich die Art des Fußballspielens beispielsweise bei einem extrem kleinen Ball im Vergleich zur gängigen Ballgröße? Antworten auf diese Fragen lassen sich nur durch ein praktisches Experiment ermitteln: Die Seminargruppe trifft sich also zum gemeinsamen Fußballspielen auf dem Schulhof.

Zunächst proben wir das andere Extrem, wir spielen mit einem überdimensionalen Ball, einem Gymnastikball, ein Fußball, der aufgrund seiner Größe (Durchmesser ca. 70 cm) und Materialität ein ganz anderes Spielerlebnis ermöglicht. Die Größe des Balles, bei gleichzeitiger Leichtigkeit des Materials und seine Elastizität vermitteln große Spielfreude, auch wenn die Ballkontrolle schwierig bleibt. Interessant ist die Außenwirkung des großen Balles, Fremde sprechen uns an und wollen mitspielen. Der große, leuchtend rote Ball ist eine Attraktion.
Okay, der Ball ist ein Highlight, aber welches sind die anderen Faktoren, die für die plötzliche „Attraktivität“ des Spiels sorgen? Zum einen proben wir diesmal nicht auf dem Schulhof, sondern in einem öffentlichen Park, und die Leute hier scheinen offen für neue und aufregende Formate der Freizeitbeschäftigung. Der Park erfüllt jedoch auch durch sein großräumiges Flächenangebot und die Abwesenheit sensibler Objekte, wie Auto- oder Fensterscheiben die Grundvoraussetzungen für ein unfallfreies Fußballspiel.

Wir begeben uns nach Wilhelmsburg um dort nach weiteren Antworten auf unsere Fragen zu suchen. Stärker als zuvor rücken die jeweiligen Spielorte in den Fokus unserer Experimente, d.h. Spielformate entstehen nicht mehr nur durch einen bewussten Regelbruch, sondern sie orientieren sich verstärk an den räumlichen Gegebenheiten vor Ort und entwickeln sich als direkte Reaktionen auf den vorgefundenen Stadtraum. Die Orte unsere Experimente sind nicht zwingend Fußballplätze, sondern können beliebige Orte in Wilhelmsburg sein; der Stadtraum wird zum Teil des Experiments.

Für den überdimensionierten roten (Gymnastik-)Fußball erweist sich schließlich ein Containerterminal als idealer Spielort. Die Größe des Balls und die eindrucksvolle Kulisse bestehend aus aufeinander gestapelten Containern bestärken sich in ihrer Ästhetik gegenseitig. Die Asphaltfläche zwischen den Containern bildet ein ideales Spielfeld, während einzelne der massiven Container sich als Tore nutzen lassen und ihr Ensemble eine Kulisse bildet, die an ein Stadion erinnert.

Wir kommen bei der Soulkitchenhalle vorbei (bekannt aus Fatih Akins gleichnamigem Film). Dies scheint ein aufgrund seiner Geschichte und heutigen Rolle für die Wilhelmsburger bzw. Hamburger Kulturszene interessanter Ort zu sein. Doch was hat dieser Ort mit Fußball zu tun? In der Soulkitchenhalle finden Konzerte und Partys statt. Wir befinden uns also an einem Ort, der in der Regel erst abends, also wenn es dunkel ist, seinen Charme so richtig entfaltet und die Leute mit der Aussicht auf Musik, Tanz und ein wenig Industriehallen-Flair anlockt. Wir beschließen nach Absprache mit dem Soulkitchenbetreiber Matthias Lintl, die Halle abzudunkeln und hier Fußball allein bei Stroboskoplicht und mit einem fluoreszierenden Ball zu spielen. Disko-Fußball. Die Sichtbarkeit von Spielern, Spielgerät und Spielfläche scheint ein ungeschriebenes Gesetz für sportliche Aktivitäten im Allgemeinen zu sein, dass uns bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn gekommen war und mit dem wir umgehen wollen. Die Frage nach der Sichtbarkeit und die stets vorausgesetzte optische Differenzierbarkeit zweier gegeneinander spielender Teams inspirieren uns daher zu einem weiteren Fußballformat: Zwei Mannschaften treten gegeneinander an, doch alle Spieler sehen gleich aus, alle tragen Maleroveralls und Gesichtsmasken. Die Spieler sind optisch, abgesehen von ihrer Statur, kaum noch zu unterscheiden. Lautes Schreien und Rufen: “Michael, hier bin ich doch!” - “Wo wo?” - “Mensch, hier drüben!” - “Scheiße, so kann man doch nicht spielen.” - “Es ist so heiß, wer hat sich das denn ausgedacht?”

Interkulturelles Fußballturnier

Für ein Turnier braucht es Teilnehmer und natürlich auch Zuschauer. Wie lassen sich also Teilnehmer und Zuschauer für ein unkonventionelles Fußballturnier werben? Unser Anliegen ist es außerdem, Teilnehmer aus Wilhelmsburg für das Turnier zu gewinnen. Wir wollen gemeinsam mit ihnen erfahren, wie es ist, vordefinierte Orte in einen neuen Kontext zu rücken, bekannte Regeln des Raums bewusst außer Kraft zu setzen und diese durch die eigene Praxis neu erfahrbar zu machen. Es braucht unkonventioneller Marketingwerkzeuge! Aufmerksamkeit! Wir haben einen großen roten Fußball. Der hat sich bereits als “Hingucker” bewährt. Man kann uns also sehen, aber man kann uns noch nicht hören. Gesagt getan, ein Soundsystem muss her. Ein Generator wird samt Verstärker und Boxen auf eine Schubkarre montiert, ein Werbeposter angebracht und los geht es. Die Reaktion auf der Straße gehen von verhalten über amüsiert bis hin zu zurückhaltender Unterstützung. Neben direkten Absagen für eine Teilnahme erhalten wir unverbindliche Zusagen für einen Besuch des Turniers am genannten Datum. Wir versuchen es also bei verschiedenen Sportvereinen und denken uns, hier müssten wir doch auf die Fußballbegeisterten des Stadtteils treffen ... Die Jugendlichen können sich jedoch unter den von uns beschriebenen Fußballformaten nicht wirklich etwas vorstellen und wollen sich lieber beim “richtigen” Fußballspielen verausgaben. Plakate werden geklebt und Flyer gedruckt, ein Artikel in der lokalen Wochenzeitung veröffentlicht.
Der Kunst- und Sportverein Wilhemsburg bietet eine Plattform für die Ansprache möglicher Teilnehmergruppen, wir erreichen so jedoch kaum Wilhelmsburger Anwohner, sondern vor allem Leute, die sich der Hamburger Kunst- und Kulturszene zuordnen lassen. Die IBA entsendet schließlich ein eigenes Team, aus Wilhelmsburg nehmen zwei Teams Teil, eines rekrutiert sich aus dem Umfeld der Wilhelmsburger Küchenkonzerte, das zweite vom Wilhelmsburger Sportverein “Eintracht Wilhelmsburg”. Internationales Flair vermittelt die Teilnahme zweier Teams, die sich vor allem aus Erasmusstudierenden zusammensetzen, der Kunstverein Hamburg ist vertreten und weitere Teams.

Das Interkulturelle Fußballturnier als Höhepunkt des Seminars „Interkulturelle Praxis“ war schließlich ein großer Erfolg. Zum einen aufgrund der gelungenen Veranstaltung, wie Teilnehmer, Besucher und Studierende bestätigten. Das Turnier war jedoch auch aus stadtforscherischer Perspektive eine gelungene Intervention in den Stadtraum und ermöglichte das Ausloten und neu interpretieren formeller und informeller Regelwerke im Stadtraum. Gängige „Regelwerke“ im urbanen Raum wurden in Frage gestellt, indem städtische Orte und ihre Nutzungsweisen neu interpretiert wurden. Das Turnier als Format der räumlichen Irritation zeigte, dass Stadt kein System starrer Regelwerke und festgelegter Handlungsfelder ist, sondern immer Gegenstand vielfältiger Aneignungsprozesse ist und diese die tatsächlich geltenden „Regelwerke“ erst produzieren.