Lieblingsorte

Autoren:
Katharina Böttger, Lene Benz, Nora Fanderl, Kathrin Dröppelmann, Adrian Judt
Im Rahmen des Seminars Urban Territories 2, betreut durch Katja Heinecke & Katrin Klitzke
Sommer 2011

Lieblinsgort, weil...

Weil er so speziell ist. Weil er nicht dafür vorgesehen ist, dass man sich dort aufhält. Weil es nicht so einfach ist, da hinzugelangen. Weil es so ein bisschen ein Fingerzeig auf die Geschichte ist. Und ja... weil das auch ein bisschen so Industriecharakter hat. Also man ist da ja quasi im Hafengebiet so ein bisschen drin und ja auch die beiden doch recht großen Brücken links und rechts, die das ein bisschen fassen sind schon besonders. Insgesamt ist es aber ziemlich ruhig dort. „Also ja, ... Exklusivität irgendwie ... ein Aufenthaltsort, der nicht dafür bestimmt ist.“ (Erzählender E10)

Entdecken

Ein Lieblingsort muss zunächst einmal gefunden und entdeckt werden. Die Art und Weise, wie man diesen für sich entdeckt, gleicht häufig einem kleinen Abenteuer. Nicht zuletzt trägt genau dieses Erlebnis oder Erfahrung dazu bei, den Ort als etwas Außergewöhnliches wahrzunehmen.

E17: Auf dem Weg zum alten Elbtunnel, ... da kann man irgendwie, ...wenn man dann noch mal umdreht und irgendwo über so ne Brücke fährt und über einen Zaun drüber klettert, dann kommt man an eine Stelle wo man zwischen den Kanälen sitzt und aufs Wasser gucken kann.
E3: Auf unserem schönen Weg am Kanal entlang auf dem Weg zum Aldi haben wir entdeckt, dass wir von dort aus über die Brücke klettern können auf die andere Seite und da haben wir jetzt vor drei Wochen allerdings erst weil uns der Zaun abgehalten hat ... haben wir irgendwie den Weg über den Deich geschafft und es ist einfach eine andere Welt.

Man sieht an den Erzählungen, dass die Orte oft im Verborgenen lagen und somit kleine Hürden und Hindernisse überwunden werden mussten um an sie gelangen zu können. So musste auch E11 einiges auf sich nehmen, um an seinen Lieblingsort zu kommen.

E11: ...der Zugang ist auch nicht ganz so einfach: man muss durch Gestrüpp, durch Dornen und so weitergehen damit man da überhaupt hingelangt aber es ist viel Platz. ... Ja das ist alles bewachsen mit Gras und Büschen, das erschwert den Zugang wie schon gesagt...

Ruhe

Ein wesentliches Merkmal eines sogenannten Lieblingsortes ist die Empfindung von Ruhe. Man könnte demnach also von einem Lieblingsort ‚Ruhe‘ sprechen. Diese drückt sich hierbei primär darin aus, dass nicht viele Leute an diesem Ort anzutreffen sind. So begründeten viele der Erzählenden, dass ‚niemand‘, ‚keine Menschenseele‘, ‚nicht viele Leute‘ oder ‚kaum jemand‘ sich an dem besagten Ort zur gleichen Zeit aufhielte.

E18: ...da kommen nicht viele Leute hin, danach kann man da ruhig sein ohne dass irgendjemand was sagt oder so. ... Die Ruhe eigentlich.
E12: Da sind auch so Bäume und da geht fast Niemand hin.
E5: Das sind einsame Orte. Also ich gehe meistens da auch alleine hin.

Die Ruhe drückt sich neben der Tatsache, dass man hauptsächlich alleine dort ist und nicht viel gesagt wird, was die Situation stören könnte, in der Natur aus, die E5 in dem Wort Bäume erwähnt. Interessant ist bei folgenden Aussagen das Ruhe in einer Kombination aus ‚Natur‘ und ‚grün‘ auf der einen Seite und ‚Lärm‘ und ‚Industrie‘ auf der anderen Seite wahrgenommen wird. Anfänglich liegt bei E13 zum Beispiel die Betonung der Ruhe darauf, dass der Ort abgelegen und typisch für die Insel ist, da es dort ruhig zu sein scheint. Des Weiteren konstituiert sich bei dem Erzählenden die Ruhe aus dem Alleinsein und dem Bezug zur unmittelbaren Umwelt.

E13: Und er ist auch typisch für die Insel. Er ist relativ abgelegen. Es ist ruhig. Abends ist da halt keine Menschenseele mehr. ...Die Eigenschaften des Ortes sind zum einen Ruhe, dass man so das Gefühl hat man ist so der Einzige der eigentlich die Qualität des Ortes erkennt, weil wenn da Leute waren, dann waren das halt nur Hafenarbeiter und die arbeiten natürlich in der Umgebung, sehen aber nicht unbedingt die Qualitäten die dieser Ort hat, nämlich dadurch, dass er halt grün ist und relativ abgelegen. Ruhe kann man schon sagen, aber auch der Charme also mit den Fabriken mit dem Deich dazu, ... das hat schon so einen eigenen Stil, ... weil ich glaube ruhige Orte an sich, findest du auf der Insel auch andere.

Ruhe findet E13 dadurch, dass sich meistens kein anderer außer ihm an dem Ort aufhält und durch den Charme des Ortes welcher er durch seine Abgelegenheit sowie dem eigenen Stil aus Industrie und Natur erfährt. Somit ist die Kombination aus industrieller Umgebung und Natur kennzeichnend für die Lieblingsorte auf der Insel, was den Charme des Ortes ausmacht. Diese Kombination beschreibt auch E3 ganz unabhängig von E13 mit dem Wort ‚charmant‘.

E3: Also es ist wirklich ruhig. Natur in dem Sinne, es ist halt viel brach, und kaputt, alt, aber es hat so eine charmante Ausstrahlung und so.

E4 und E7 bringen einen weiteren Aspekt hinzu, den die Ruhe am Lieblingsort ausmacht, nämlich den Kontrast zu anderen Orten und Ecken auf der Insel:

E4: ... wenn man auf dem Stübenplatz steht, hat man einen sehr lebendigen Ort, wo sich halt ganz viele Menschen aufhalten. Dann findet dort der Markt statt. Dann hat man die unterschiedlichen kleinen Läden und so weiter. Dann hat man auf der anderen Seite halt den Ringlockschuppen und wenn man da in der Mitte steht ist das halt ein völlig ruhiger Ort. Es gibt ein bisschen Gewerbe drum herum aber davon hört man nichts mehr. Und auf der anderen Seite fahren die Züge lang, aber davon bekommt man auch nichts mit. Man ist eigentlich durch die ganzen vielen kleinen Birken abgeschottet. Das ist halt ein bisschen so eine kleine Ruheoase inmitten von einem doch recht lebendigen Stadtteil... aber eben auch die Ruhe.
E7: Ich finde das ist ein schöner Kontrast zu der Ecke da, da ist so ein bisschen ‚ghettomäßig‘ würde ich sagen, etwas dreckig. Nicht so besonders angenehm. Und wenn man halt in die Richtung geht ist es halt sehr angenehm, darum zu laufen. ...man fühlt sich da wohler ist halt ne andere Ecke.

Man könnte auch wie E7 von einem Kontrast zu den ‚anderen Ecken‘ auf der Insel sprechen, der erst ein Verlangen nach Ruhe hervorruft. Der Lieblingsort ist geprägt durch Ruhe, die der Erzählende an ihm erfährt obwohl es dort objektiv betrachtet nicht im klassischen Sinne ruhig sein muss. So beschreibt E10 die Ruhe am Ort wie folgt:

E10: ..., dass da eigentlich immer so eine Ruhe und Stille ist und das Schöne daran find ich auch, dass die Strecke und dadurch auch die Orte, ... dass man die immer wieder neu entdecken kann, abhängig von der Tageszeit an der man da durchfährt.
E10: Also wo man einfach unterschiedliche Lichtstimmungen hat, unterschiedliche Geräuschpegel unterschiedliches Leben auch wobei es meistens immer ruhig ist. Aber... das ist glaub ich da, wo ich mich in Hamburg fast so am wohlsten und freisten fühl.
E11: ... also die prägenden Elemente waren die beiden Brücken natürlich, die irgendwie immer eine gewisse Dynamik ausgestrahlt haben gleichzeitig auch Lärm. Es war aber nicht so, dass man sich dadurch gestört gefühlt hat. Und da ist so gut wie niemand. Es kommt vor, dass sonntags früh da ein paar Angler sind, ansonsten ist da eigentlich kaum jemand, aber es gibt eine Feuerstelle das zeugt davon, dass da auch noch andere Leute sind außer uns. Gut es ist laut wegen der Autobahn und so weiter aber es ist halt so ein Ort, den wahrscheinlich nicht so viele kennen und als Aufenthaltsort wahr nehmen.

Trotz der Autobahn und der Lautstärke wird der Ort zum Aufenthaltsort für E11. Hierbei ist wichtig, dass diesen Ort nicht so viele Leute kennen und ihn nicht als schönen, ruhigen Ort wahrnehmen. Ruhe am Lieblingsort zeichnet sich demnach dadurch aus, dass nicht viele Menschen am Ort sind, sie durch einen Kontrast zu anderen Orten auf der Insel gefunden wird und sie nicht unbedingt vom Geräuschpegel abhängig ist. Doch manchmal findet man sie Ruhe auch, wenn ‚alle‘ da sind ...

E1: Vielleicht die Ruhe manchmal. Aber es ist so in dieser Ecke hier relativ ruhig auch wenn alle da sind.

Was bedeutet der Topos Lieblingsort?

Mit der Untersuchung des Topos Lieblingsort möchten wir dem Interesse näher kommen, welche Wünsche und Bedürfnisse Menschen in der Stadt haben. Was zeichnet einen Lieblingsort aus? Welche Qualitäten stecken in diesen Räumen, die diese so schätzenswert machen? Welche materiell dinghaften Elemente kennzeichnen den Ort? Was für räumliche und soziale Aspekte kennzeichnen den Ort? Um Lieblingsorte zu untersuchen, muss man etwas von ihnen erfahren. Hierzu befragten wir Menschen in Wilhelmsburg zu ihren Lieblingsorten in diesem Stadtteil. Die Antworten reichten von dem verwilderten Ringlockschuppen über die Hafenindustrieflächen bis hin zu einer Bäckerei. Auf den ersten Blick erscheinen die Orte sehr vielseitig und es sind kaum Gemeinsamkeiten zu sehen. Aus den Interviews zu den persönlichen Lieblingsorten lassen sich jedoch Parallelen erkennen, die aus Beschreibung und Erzählung ersichtlich werden.

Forschungsmethoden

Nach einem ersten Dérive durch den Stadtteil Wilhelmsburg wurde sich der Forschungsfrage ‚Was zeichnet einen Lieblingsort aus?’ anhand der Erhebung narrativer Interviews genähert. In den umfangreichen Erzählungen wurde erkenntlich, dass zwar räumliche Aspekte des Ortes eine Rolle spielen, jedoch nur durch die sozialen Aspekte und subjektiven Qualitäten sich zu dem Lieblingsort ausbilden. Immer wieder war die Rede von Erinnerungen, Träumen, Erfahrungen, Assoziationen sowie der individuellen Raumaneignung des Ortes. Ohne die sinnlich kognitive und soziale Leistung existiert der Lieblingsort nicht. Aufgrund der darin wiedergegebenen Beschreibungen und Erzählungen entstand eine Liste von Lieblingsorten, die textlich, fotografisch und in Form isometrischer Zeichnungen abgebildet wurden. Diese dreiteilige Abbildung in Text, Zeichnung und Fotografie sollte ebenfalls dazu dienen, die relationale Anordnung des Raumes - und damit die verschiedenen Eigenschaften, die einen Ort zu einem Lieblingsort werden lassen - darstellen zu können. Das Interviewmaterial wurde mithilfe der Grounded Theory ausgewertet und interpretiert. Dadurch entstand eine Reihe von Kategorien auf die sich die jeweils passenden Zitate zuordnen ließen. Die Kategorien welche einen Lieblingsort auszeichnen lauteten: Aktivitäten am Ort, (Nicht) Alltäglich, Artefakte in der Umgebung, Vergangenes, Ruhe und Entdecken. Die beiden letzteren werden hier näher vorgestellt.

Ein Lieblingsort ist, ...

Auch wenn die im Vorigen abgebildeten Interviews nur ein Stimmungsbild über Lieblingsorte wiedergeben, so lassen sich daraus sehr wesentliche Tatsachen über das Phänomen Lieblingsort ableiten. Lieblingsorte entsprechen einem komplexen Bild, bestehend aus unterschiedlichen und oftmals konträren Komponenten. Dabei sind die in der Interpretation hervorgehobenen Kategorien nicht zwingend eine Bedingung für einen Lieblingsort. Die Zusammensetzung der einzelnen Bestandteile für einen Lieblingsort sind individuell. Dadurch ist es schwierig, von dem einen Lieblingsort zu sprechen, da er erst durch die subjektive Wahrnehmung eines Jeden entsteht. Aus den Interpretationen in Wort und Bild lässt sich jedoch herauslesen, dass diese ‚Orte‘ eine Insel bilden, die aus für sie typischen Charakteren und Elementen besteht: Dem starken Kontrast aus Natur und Industrie sowie dem Wechselspiel zwischen Ruhe und Lärm.